Die Pride-Bewegung (kurz LGBTQIA+) und neue Formen des Familienlebens sind in der Hebammenarbeit längst angekommen.

Zwei äußerlich als männlich erkennbare Menschen stehen vor der Kreißsaal-Tür. Einer von ihnen ist biologisch eine Frau und schwanger. Auf den ersten Blick ist nicht zu erkennen, wer von beiden die Person ist, die nun in den Kreißsaal zur Geburt kommt.

 

Beide verstehen ihre Zugehörigkeit zu den Geschlechtern als nonbinär.  Nonbinär bedeutet, dass beide sich keinem der beiden streng geteilten Geschlechter (männlich – weiblich) zugehörig fühlen. In der Pride-Welt gibt es ein riesiges Spektrum an Geschlechtsidentitäten.

 

Na gut, aber kommt doch erst mal rein, begrüßt sie meine Kollegin. Die Stimmung ist aufgeladen und abwehrend uns gegenüber. Sie wollten ihr Kind in einem Geburtshaus mit einer speziellen Ausrichtung auf LGBTQIA+-Bedürfnisse bekommen und sind nun doch an einem Ort gelandet, der wenig auf ihre Wünsche und Bedürfnisse vorbereitet ist. 

 

Und mal ganz ehrlich: Ja, wir hier im Kreißsaal sind überfordert. Jede von uns auf ihre eigene Weise. Wir müssen erst einmal innehalten, durchatmen. Wir googlen, lesen und diskutieren, tauschen unsere Gedanken aus. Der Computer streikt bei der Aufnahme eines Mannes zur Geburt ins Kreißsaal-System, aber die gebärende Person ist nun einmal ein Mann. Das steht so in ihrem Ausweis und auf ihrer Krankenkassenkarte. Also muss das Paar die Geburt selbst bezahlen, was verständlicherweise Verärgerung auslöst. Auch seinem Wunsch, das erwartete Kind als „nonbinär“ zu registrieren, können wir nicht entsprechen, weil das System nur die drei Kategorien „männlich“, „weiblich“ und „divers“ kennt. Die Empörung darüber bekommen wir ebenfalls zu spüren.

 

Unser Team besteht größtenteils aus Kolleginnen, die in den nächsten 10 bis 15 Jahren in Rente gehen, und ein paar wenigen jungen Hebammen, die noch keine 30 Jahre alt sind (männliche oder diverse Hebammen sind nicht darunter). Gleichgeschlechtliche Paare, Patchwork-Geburten und so manch andere Konstellationen kennen wir alle. Hier in unserer Arbeit im Kreissaal eines Berliner Krankenhauses. Verschiedene und andere Kulturen, Traditionen, Sitten und Religionen begegnen uns immer häufiger in unserer Arbeit und der sich rasant verändernden Welt. Von totalem Unverständnis bis hin zu Gleichgültigkeit und Schulterzucken ist alles dabei im Team der Hebammen. Das Thema lässt uns nicht mehr los. Unsere Bilder im Kopf und unsere Sprache im Gebärsaal sind weiblich. Brüste, Vaginen, Vulven, Bäuche und weibliche Formen und Töne … Frauen, die ein Kind gebären, denn nur der weibliche Körper kann dieses Wunder vollbringen.

 

Nun aber sitzt ein ausgewiesener Mann mit äußerlich sichtbarem Bart, einer tiefen Stimme und männlichen Formen in der Badewanne und hat einen unübersehbar schwangeren Bauch, in welchem ein Baby sich auf den Weg in unsere Welt macht.

 

Wie sollen wir das Paar ansprechen, wie die gebärende Person anfassen oder sogar vaginal untersuchen? Es scheint ein Minenfeld für uns zu sein. Ich höre von den Kolleginnen Diskussionen und Anspannung, von Erwartungen an uns, wie alles richtig zu sein hat. Ist es unsere Aufgabe als Hebammen, hier im Kreißsaal darüber zu diskutieren, dass eine nonbinäre Anmeldung des Kindes nicht möglich sein wird? Da draußen brennt die Welt. Es gibt Krieg, Hunger, ertrinkende Menschen, Fluten und Dürrekrisen, Zukunftsängste, Klimakrise, Energiepreise und Inflation und, na ja, auch noch ein bisschen Corona. Das alles nimmt uns gefangen und bestimmt unser Miteinander, auch hier im Kreißsaal. Und nun ist da jemand, der unsere Kreißsaal-Welt auf den Kopf stellt. Die Geburt ist weiblich und auch die Begrifflichkeit, die damit verbunden ist.

 

48 Stunden später wird ein gesundes Mädchen geboren. Die Hebamme, die den letzten Teil der Geburt begleitet, erzählt mir von ihren Eindrücken. Eine persönliche Bewertung lässt sie in ihren Erzählungen aus. Anerkennend für die Geburtsarbeit, die dieses nonbinäre Wesen geleistet hat, irritiert von einem männlich behaarten Körper und fehlenden Brüsten. Das Thema der Geschlechterzugehörigkeit habe sie einfach ausgeklammert in ihrer Betreuung, denn das sei ja in diesem Moment auch egal, oder?, erzählt sie mir. Weißt du, sagt sie, in den letzten Minuten der Geburt, kurz bevor der Kopf des Babys geboren wurde, war Max (Name geändert) auf einmal wieder völlig weiblich. Die Stimme und ihre Augen, ihre Suche um Hilfe und Unterstützung verwandelten diese Person auf einmal in die Gebärende, die wir Hebammen kennen. Das war beeindruckend zu sehen und hat meine Kollegin tief berührt. Sie fragt sich, ob dieses Erlebnis der Geburt, diese Kraft und das Wunder, welches nur ein biologisch weiblicher Körper vollbringen kann, ob die gebärende Person genau das für sich selbst anerkennen kann, auch wenn ihr Name Max ist? 

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