Stillen ist das Schönste der Welt? Stimmt manchmal, und manchmal überhaupt nicht.

Stillen ist eine Religion. Die Bücherregale quellen über von Fachliteratur rund um das Schönste der Welt.

Webseiten, Facebook-Gruppen und Instagram-Accounts voller stillender Frauen. Es wird gekämpft, beschimpft, gemeint, erzogen und bestimmt. Die Industrie reagiert auf den Trend mit Produkten, die diese Zeit unterstützen soll und der Laden läuft. Geboren wird in einer stillfreundlichen Klinik.

In meiner Ausbildung zur Hebamme, die 1986 begann, habe ich nichts über das Stillen gelernt und hatte auch in der damaligen Praxis so gut wie keinen Kontakt zu Müttern, die überhaupt stillen wollten. Diese Generation Frauen waren ja Kinder der 68er, die die Befreiung der Frau predigten. Dazu gehörte, dass es die Flasche gab, und das bitte alle vier Stunden, fertig. Wir sind ja auch alle groß geworden, nicht?

Stillen war in der Zeit etwas sehr Alternatives. Das belegen die Fotos im ersten Buch zum Thema von Hanna Lothrop, eine der ersten Ikonen der Stillberaterinnen. Man sieht dort Kommunen-Mitglieder in selbstgefärbten Latzhosen sitzen, die Männer mit langen Bärten, die Frauen mit nackten Brüsten, sie stillen Kinder jeden Alters.

Es gibt keine Still-Generation vor uns, die uns familiär geprägt hat, wie in den nordischen Ländern. Dort kann quasi jeder, der Familie die Beratung übernehmen, da dort schon immer gestillt wurde und jede Familie hat ihre eigen Tricks und Tipps.

Nicht selten kommen die alten Zeiten zurück an den Wickeltisch im 21. Jahrhundert, wenn die Mutter oder Schwiegermutter einer jungen Mama, die ich betreue, die früheren Weisheiten zum Besten geben. Eine der häufigsten Bemerkungen ist, dass man damit das Baby ja verwöhnt und, na ja, dass es ja eh nicht satt wird.

In der Familie hat es sowieso nie geklappt mit dem Stillen, und das muss man der jungen Frau doch bitte auch mal ganz fix klarmachen. Eine nicht seltene Folge solchen Inputs im Wochenbett ist das sogenannte Schwiegermutter-Syndrom, bei dem die stillende Mama schon beim Überschreiten der Stadtgrenze der Schwiegermama einen Milchstau bekommt.

Andererseits werden die Vorteile des Stillens gepredigt wie die Verse aus der Bibel. Ja, wir kennen sie alle und ja, wir haben es verstanden. Wir glauben den schönen und entspannten Müttern auf Webseiten und auf allen Kanälen, die von Glück beseelt mit frisch geföhnten Haaren und adrett gekleidet in einem stylischen Wohnzimmer sitzen, dass Stillen das Schönste der Welt ist. Ich kann nur sagen ja, das ist es.

Jetzt kommt das Aber: aber eben nicht für jede Frau. Wie sollen sich Frauen fühlen, bei denen es nicht klappt und die nach langen Kämpfen und vielen Tränen mit dem schlechtesten Gewissen der Welt am Ende aufgeben. Die Frauen, die weinend und kaputt auf ihrem Sofa sitzen, in einer unaufgeräumten Wohnung, in Schlabberhosen, ungeduscht und dem berühmten Mutterknoten, um die ungewaschenen Haar zu bändigen.

Ja, Stillen kann auch ein Arschloch sein und zwar ein richtiges.

Henriette hat mir diesen Spruch mit auf den Weg gegeben bei meinem letzten Hausbesuch in der achten Woche, nachdem das Stillen endlich und nach vielen Tränen geklappt hatte. Der Spruch trifft in den dunklen Abgrund, der für manche im Stillen verborgen ist. Was habe ich diese Frau bewundert für ihren Willen. Chapeau! Er begleitet mich seitdem in meiner Arbeit und ich gebe ihnen gern Frauen mit auf den Weg, bei denen das Stillen eben nicht so klappt.

Ich würde mir wünschen von allen Mamas da draußen: Lasst die in Ruhe, die nicht stillen wollen oder können oder sich, warum auch immer, dagegen entscheiden. Unterstützt euch gegenseitig, macht euch Mut und haltet verdammt noch mal zusammen. Und keine Mama ist besser als die andere Mama. Es gibt sie nicht, die guten oder die schlechten Mamas.

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